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Literatur / Kulturveranstaltung Literaturhaus Salzburg Salzburg, Strubergasse 23
Aufführungen / Theater Kleines Theater Salzburg Salzburg, Schallmooser Hauptstr. 50
Aufführungen | Film

Franz Kafka: Terry Gilliam „Brazil“

Literaturhaus Salzburg

Filmclub | Kafkas Welten Der Filmclub „Kafkas Welten“ zeigt ein herausragendes Beispiel der Kafka-Rezeption. Zurecht wurde Terry Gilliams „Brazil“ vielfach mit dem Attribut „kafkaesk“ versehen: Der Büroangestellte Sam Lowry (Jonathan Pryce) erinnert an Josef K. in „Der Proceß“, der in die Mühlen der übermächtigen Bürokratie gerät. Um seinem tristen Alltag zu entkommen, verwandelt er sich in seinen Tagträumen in einen geflügelten Helden. Als er auf eine junge Frau trifft, die dem hilflosen Opfer aus seiner Einbildung ähnelt, will er sie unbedingt retten: Auf der Suche nach ihr gerät Lowry in die Fänge des allwissenden „Ministry of Information“. Mühelos „von umwerfender Komik und politischer Satire zu träumerischer Romantik und dystopischer Science Fiction“ (The Criterion Collection) gleitend, entwirft Terry Gilliam ein anspielungsreiches Filmspektakel. Einführung: Manfred Mittermayer GB 1985; Regie: Terry Gilliam; Drehbuch: Charles McKeown, Tom Stoppard, Terry Gilliam; Kamera: Roger Pratt; mit: ­Jonathan Pryce, Robert De Niro, Katherine Helmond, Ian Holm u.a.; 142 Min.; engl. OmU Eintritt Kartenpreise DAS KINO, Mitglieder DAS KINO und Leselampe frei Veranstalter: Das Kino, Literaturforum Leselampe
Aufführungen | Film

Franz Kafka - Jochen Alexander Freydank: „Der Bau“

Literaturhaus Salzburg

Filmclub | Kafkas Welten Einführung: Manfred Mittermayer Mit seiner Verfilmung betritt Jochen Alexander Freydank Neuland in der Kafka-Rezeption: Die erstmalige Adaption der unvollendeten Erzählung „Der Bau“ nimmt wesentliche erzählerische Strategien des Autors auf und überträgt die Handlung des Textes in die Großstadt des 21. Jahrhunderts. Anders als in der Erzählung Kafkas, die zu seinen letzten gehört und als Kulmination seines Spätwerks gilt, ist die Hauptfigur kein maulwurfähnliches Tier, sondern ein Mensch. Der Büroangestellte Franz (Axel Prahl) lebt mit Frau und Kindern in einem festungsartigen Wohnbau, der dem Dachs- oder Maulwurfsbau in der literarischen Vorlage entspricht. Im Gefühl zunehmender Bedrohung beginnt Franz, die Wohnung ­gegen imaginäre Feinde abzusichern. Als er Arbeitsplatz und Familie verliert und schließlich die Wohnung und die ganze Stadt verfallen, legt der Film seine dystopische Vision offen: In einer postapokalyptischen Welt lebt Franz als weiser Baumeister, der – wie in der Erzählung – feststellt: „Aber alles blieb unverändert.“ Veranstalter: Das Kino, Literaturforum Leselampe Kartenpreise DAS KINO, Mitglieder DAS KINO und Leselampe frei
Aufführungen | Film

Franz Kafka - Klassenverhältnisse

Literaturhaus Salzburg

Filmclub | Kafkas Welten Beteiligte: Danièle Huillet, Franz Kafka, Jean-Marie Straub Die radikale Verfilmung „Klassenverhältnisse“ nimmt die Geschichte von Karl Roßmann aus Kafkas Romanfragment „Der Verschollene“ lose auf: Karl (Christian Heinisch) wird als junger Mann von seinen Eltern in die Vereinigten Staaten von Amerika geschickt, nachdem er von einem Dienstmädchen „verführt“ worden ist und dieses ein Kind von ihm bekommen hat. Karl findet sich in einer fremden Welt wieder. Er scheitert an dieser Welt voller Lügen, falschem Optimismus und brutalen Begegnungen, die ihn mit ungeschriebenen sozialen Gesetzen konfrontiert und über die wahren „Klassenverhältnisse“ aufklärt. „Der Verschollene“, in frühen Kafka-Ausgaben unter dem Titel „Amerika“ publiziert, wird in der filmischen Adaption von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub „zu einer Allegorie über eine kapitalistische Gesellschaft, die in keiner spezifischen Zeit und in einem fiktiven Amerika spielt“ (Film­museum). www.leselampe-salz.at BRD/F 1984; Regie/Drehbuch: Jean-Marie Straub, Danièle Huillet; Kamera: William Lubtchansky, Caroline Champetier, Christophe Pollock; mit: Christian Heinisch, Nazzareno Bianconi, Laura Betti, Harun Farocki u.a.; 126 Minuten; dt. OF Veranstalter: Das Kino, Literaturforum Leselampe Kartenpreise DAS KINO, Mitglieder DAS KINO und Leselampe frei
Aufführungen | Aufführung

WeGe theater:
gelesen / vergessen

Literaturhaus Salzburg

Improvisationstheater Mit „gelesen/vergessen“ zeigt WeGe theater seine neue Arbeit für das Literaturhaus: Improtheater auf der Basis unterschiedlicher Leseerfahrungen. Gleich bleibt die Dauer von 55 Minuten und dass alles aus dem Moment entsteht. Peter: „Ob mehr die Idee oder eine Figur oder doch die Leser:innen zu sehen sein werden?“ Stefan: „Meistens würde ich lieber die Geschichten zu den Büchern selber erfinden, als sie zu lesen.“ Alexandra: „Des Vagessene legt si aus Staub auf die Biacha im Regal.“ Wolfgang: „Mei Buach is ned deppert.“ Huberta: „Mit der Stimme von der Figur und gegen die Macht der Autorin, die ihr alles vorschreibt, spielen …“ Gernot: „Die letzte Seite ist tabu!“ Marlene: „Gelesenes ist mir eng, windig, säuselnd, weit, beatmend, drückend, kopfgewittrig, matschig, müde, ausladend …“ Veranstalter: Verein Literaturhaus Eintritt € 10/8/6
Aufführungen | Ballett

Ein Mittsommernachtstraum

Salzburger Festspiele

„Magie unter der Mitternachtssonne“ Der Vorhang hebt sich, und auf offener Bühne wird Weizen geerntet! Das Fest der Sommersonnenwende wird begangen. Es wird gelacht, getanzt und getrunken und das Leben gefeiert. Doch im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht verschwimmen die Grenzen von Fantasie und Wirklichkeit. In dieser magischen Zwischenwelt ist alles möglich; vieles, das sich der Verstand nicht erklären kann, geschieht: Wie von Geisterhand erheben sich Tische, Menschen schweben plötzlich durch die Luft, große Fische treiben durch die Kulissen, und die Bretter, die die Welt bedeuten, verwandeln sich in einen verwunschenen Wald. Menschenleben verschmelzen mit Mythen und Legenden; zusammen zelebrieren sie eine überbordende Feier der Natur. Am Ende ist nicht gewiss, ob unsere fantastischen Träume in Wahrheit nicht viel fantastischere Wirklichkeiten sind. Zwischen dem 20. und 26. Juni strömen in Schweden traditionellerweise die Menschen zusammen, um die längsten Tage des Jahres zu feiern. Diese Feierlichkeiten haben tiefe Wurzeln und sind mit einer Fülle von althergebrachten Bräuchen und Traditionen verbunden. Viele schwedische Künstler·innen versuchen, die Magie des Mittsommerfestes in ihre Kunst zu integrieren. Einer von ihnen ist Alexander Ekman. Eindrücklich fängt er diese ganz besondere Stimmung in Ein Mittsommernachtstraum ein und verquickt sie mit den Ebenen menschlicher Existenz und (Selbst-)Wahrnehmung. Ein Fest der Freiheit und des Leichtsinns, des Übermuts, des Menschseins nimmt seinen Lauf – im Einklang mit der Natur. Alexander Ekman ist ein weltweit gefeierter Choreograf. Seine Werke wurden von so renommierten Ballettkompanien wie Les Ballets de Monte-Carlo, dem Boston Ballet, dem Nederlands Dans Theater oder dem Royal Swedish Ballet aufgeführt. Er ist für seine innovative Arbeitsweise bekannt – und für seine Zusammenarbeit mit dem schwedischen Komponisten Mikael Karlsson. Dieser schrieb die Musik für einige von Ekmans bekanntesten Choreografien, darunter Tyll, A Swan Lake, Play – und auch Ein Mittsommernachtstraum, der 2015 am Royal Swedish Ballet in Stockholm uraufgeführt wurde und seit der Spielzeit 2019/20 in der Umsetzung durch das Ballett Dortmund begeistert. (Helena Sturm) Inszenierung, Choreografie und Bühne: Alexander Ekman Ballett Dortmund, NRW Juniorballett, Dortmunder Philharmoniker
Aufführungen | Schauspiel

Jedermann

Salzburger Festspiele

Neuinszenierung Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes „Nun wollen wir gehen, es dustert schon …“ Hugo von Hofmannsthal fasziniert mich seit Langem. Ich sehe in ihm den bewussten und unbewussten Meister des Zeitgeistes – und ich verwende Freuds Terminologie mit Bedacht –, der, auch wenn er seine Werke in der Vergangenheit ansiedelte, stets in Verbindung mit den sozialen, psychologischen und politischen Entwicklungen seiner Gegenwart stand. Unter seinen Werken ist Jedermann zweifellos das universellste und populärste. Das Stück basiert auf mittelalterlichen Moralitäten desselben Titels und steht somit in einer langen Tradition. Es geht in diesen Bühnenstücken um das eine große Mysterium, dem wir uns alle eines Tages stellen müssen: den Tod. Wir Menschen sind unserem Wesen nach jedoch nicht imstande, den eigenen Tod wirklich zu begreifen. So bleibt er zumeist etwas, das anderen widerfährt. Wenn es aber für uns selbst ans Sterben geht – was eines Tages geschehen muss –, dann ist es immer zu früh. Warum ist das so, und woran halten wir so verzweifelt fest, wenn wir uns ans Leben klammern? Es sind unter anderem diese Fragen, die im Jedermann erkundet werden. Das Stück bezieht seine Kraft und Resonanz daraus, dass seine Thematik – wenn auch in kodifizierter Form erzählt – jeden und jede einzelne im Publikum betrifft, jedes Jahr, bei jeder Vorstellung. Das lässt sich nicht über alle Theaterstücke sagen. Wie seine mittelalterlichen Vorläufer bringt das Stück eine Mischung aus realen und allegorischen Figuren auf die Bühne, die von Hofmannsthal jedoch anders entwickelt werden. Die realen Figuren in Jedermanns Leben – sein bester Freund, seine Bediensteten, der Nachbar, die Mutter, die Geliebte, die Vettern und andere – werden als erste vorgestellt (nach dem Prolog mit Gott und dem Tod), und die Dialoge zwischen ihnen und Jedermann zeichnen ein klares Bild seines Alltags. Seine Besessenheit von Geld und der Taumel der Sinnesfreuden, denen er dauernd nachjagt, werden in der Darstellung des Festes, das er gibt, weiter ausgeführt – dass es nur eines in einer langen Reihe solcher Feste ist, legt der Untertitel „Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ nahe, den Hofmannsthal seiner Version des Stoffs gab. Eine der bedeutendsten Entwicklungen, die Hofmannsthal in die Erzählung einbringt, ist Jedermanns Nachdenken darüber, dass vielleicht anderes als Reichtum und sinnliches Vergnügen wichtig sein könnten, und zwar bevor ihm der Tod erscheint. Direkt nach dem Gespräch mit seiner Mutter – und vielleicht durch dieses ausgelöst – öffnet sich etwas in seiner Psyche und bewegt ihn dazu, seine Lebensführung infrage zu stellen. Damit beginnt eine Suche nach dem Wert und dem Sinn des Lebens, in deren Verlauf Jedermann sich immer weiter Fragen nach der Bedeutung des Todes, der Guten Werke, des Glaubens und letztlich Gottes stellt. Man könnte sagen, dass die Dialoge, die Jedermann mit den allegorischen Figuren führt, den inneren Dialogen, die wir alle täglich mit uns selbst führen, nicht unähnlich sind. Unterstützt und ermutigt von Max Reinhardt, setzt sich Hofmannsthal in seinem Jedermann mit der fundamentalen Frage des Todes auseinander und damit, ob und wie wir uns dafür rüsten können. Dabei kann für Gläubige jedweder Glaubensgemeinschaft die religiöse Vorbereitung im Mittelpunkt stehen, für Hofmannsthal aber spielte meiner Meinung nach auch der Bezug zwischen Kunst und Tod eine große Rolle. Er entwickelte das Thema mehrfach in vielen seiner Werke und erweiterte die Bedeutung des Todes für unser Leben, indem er den Begriff der Zeit infrage stellte. Die Befassung mit der Zeit wurde in Hofmannsthals Händen zu Kunst, und der Platz, den sein Jedermann bei den Salzburger Festspielen im Lauf der Zeit eingenommen hat, scheint mir zu bestätigen, wie wichtig Kunst – alle Künste – für unser Leben sein können. Kunst ist das einzige, das bleibt, wie uns die Abfolge der Menschheitskulturen vor Augen führt. Kunst kann uns dabei helfen, mit der Vergänglichkeit unseres Lebens und der Endgültigkeit des Todes umzugehen, sie vielleicht sogar zu bewältigen. Max Reinhardts Idee, den Jedermann im Herzen der Stadt, auf dem Domplatz, aufzuführen, ist erfüllt von Resonanz, aber auch von Freude. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich das Stück zwar mit Inhalten beschäftigt, die uns heilig sind, dass es selbst aber kein Heiligtum ist – und weder Hofmannsthal noch Reinhardt hätten wohl gewünscht, dass man es als solches behandelt. Es feiert das Leben, indem es den Tod annimmt, als wäre es Tauffest und Trauerfeier in einem. Jedermann ist eine Zusammenfassung, eine Metapher und eine Allegorie des Lebens. (Robert Carsen Übersetzung: Vera Ribarich) Regie, Bühne und Licht: Robert Carsen Mit Dominik Dos-Reis, Philipp Hochmair, Andrea Jonasson, Christoph Luser, Kathleen Morgeneyer, Joseph Lorenz, Nicole Beutler, Deleila Piasko, Christoph Krutzler, Daniel Lommatzsch, Kristof Van Boven, Julia Windischbauer, und andere
Aufführungen | Oper

Hamlet

Salzburger Festspiele

Oper in fünf Akten (ca. 1860—1863 /1867, uraufgeführt 1868) Libretto von Michel Carré und Jules Barbier nach der Tragödie von William Shakespeare in der französischen Bearbeitung von Alexandre Dumas d. Ä. und Paul Meurice Den triumphalen Erfolg seiner Shakespeare-Oper Hamlet verdankte Ambroise Thomas nicht zum geringsten Teil dem Protagonistenpaar der Pariser Uraufführung im März 1868: Die junge schwedische Sopranistin Christine Nilsson, die das romantische Bild der Ophelia als femme fragile ideal verkörperte, berückte in ihrer großen, koloraturreichen Wahnsinnsszene, während der Bariton Jean-Baptiste Faure der Vielschichtigkeit des Titelhelden eindrucksvoll gerecht wurde. Inspiriert von einer Handlung, die sich ganz auf Hamlets Rache und ihre Auswirkungen auf Ophelia konzentriert, bewies Ambroise Thomas neben seiner melodischen Erfindungsgabe erneut seine Fähigkeit, dramatische Konfronta­tionen ebenso überzeugend zu schildern wie atmosphärisch aufgeladene Szenen. Musikalische Leitung: Bertrand de Billy Philharmonia Chor Wien Mozarteumorchester Salzburg Besetzung: Stéphane Degout, Jean Teitgen, Julien Henric, Clive Bayley, Ève-Maud Hubeaux, Lisette Oropesa, und andere In französischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Oper

Les Contes d’Hoffmann

Salzburger Festspiele

Opéra fantastique in fünf Akten (1877—1880, uraufgeführt 1881) Libretto von Jules Barbier nach dem Drame fantastique von Jules Barbier und Michel Carré „Frage mich nichts, später wirst du alles erfahren.“ Hoffmann hat sie wieder gesehen, gerade eben: Stella, die von allen als Star gefeiert wird; Stella, die Geliebte, die ihn verlassen hat. Kaum verheilte Wunden brechen wieder auf, und selbst in Gesellschaft seiner Trinkkumpane vermag Hoffmann nicht, die Gefühle beiseitezuschieben, die Stellas Anblick in ihm ausgelöst hat. Und dann kreuzt auch noch Lindorf, dieser Unglücksbringer, seinen Weg … Doch die Krise setzt kreative Energie frei: Wie um sich und den anderen das Scheitern seiner Liebesbeziehung zu erklären, improvisiert Hoffmann drei Erzählungen, in denen er Stella in drei unterschiedliche Figuren aufspaltet. Denn in seiner (Ex-)Geliebten, so verkündet er seinen Zuhörern, wohnen „drei Seelen“: „Drei Frauen in derselben Frau!“ In den 1830er-Jahren entwickelte sich in Frankreich ein regelrechter Kult um E. T. A. Hoffmann, und auch das restliche Jahrhundert über blieb er dort einer der populärsten und einflussreichsten deutschen Dichter. Man bewunderte, wie in seinen Erzählungen und Romanen das „fantastique“ – das Übernatürliche – in die Wirklichkeit hereinbrach, wie die Grenzen zwischen Innen- und Außenleben verschwammen. Ebenso sehr aber faszinierte Hoffmann als Persönlichkeit. Er bildete den Inbegriff einer zerrissenen romantischen Künstlerexistenz, und schon seine frühen Biografen neigten dazu, seinem Leben legendäre Züge zu verleihen. Wenig verwunderlich also, dass sich in den Werken einiger junger französischer Autoren bald nicht nur Gestalten fanden, die von Hoffmanns Texten inspiriert waren, sondern auch Hoffmann selbst: Der reale Dichter wurde zur literarischen Figur. Ein besonderer Fall ist Jules Barbiers und Michel Carrés Schauspiel Les Contes d’Hoffmann von 1851, das Barbier 1877 zum Opernlibretto für Jacques Offenbach umformte. Während in den drei Mittelakten, den „Erzählungen“, literarische Vorlagen Hoffmanns verarbeitet sind, begegnen wir in der „Wirklichkeit“ der beiden Rahmenakte Hoffmann als Menschen – und eben als Erzähler. Zusätzlich erscheint Hoffmann aber, in einer eigenwilligen Verschachtelung der Ebenen, als Protagonist in seinen eigenen Erzählungen, die alle unglückliche Liebesgeschichten sind. Dabei bleibt er stets er selbst, und das Gleiche ließe sich für seinen treuen Begleiter Nicklausse behaupten, würde dieser (oder diese?) sich uns zu Beginn nicht als „die Muse“ vorstellen. Für Stella und die Figuren, in die Hoffmann sie auffächert, sah Offenbach eine einzige Sopranistin vor; auch Hoffmanns machtvoller Gegenspieler Lindorf und dessen erzählerische Reinkarnationen – mal skurril, mal unheimlich oder dämonisch – sind als Vierfach-Rolle konzipiert. Die Welten der Realität und der Fantasie, Hoffmanns persönliche Lebenssituation und seine künstlerischen Hervorbringungen sind in Les Contes d’Hoffmann also aufs Engste miteinander verwoben. Die französische Regisseurin Mariame Clément wird dem Verhältnis von Kunst und echtem Leben nachspüren, indem sie in ihrer Inszenierung die drei „Erzählungen“ mit einzelnen Stationen von Hoffmanns Biografie als Künstler verknüpft. Das hat entscheidende Konsequenzen für die Frauenfiguren oder besser gesagt für die Sichtweise der Bilder, die Hoffmann auf Stella projiziert: die engelhafte, aber gefühlskalte Olympia, die sich als Puppe herausstellt; Antonia, die nicht bereit ist, ihrer künstlerischen Berufung abzuschwören, und sich zu Tode singt; die Kurtisane Giulietta, die als Femme fatale Gefühle nur vortäuscht, um Hoffmann die Seele abzulisten. Für Mariame Clément ist es wesentlich, diesen Figuren eigenständiges Leben zu geben, eine reale Identität und damit das Potenzial, die ihnen auferlegten Weiblichkeitsbilder zu problematisieren. Offenbach sah in Les Contes d’Hoffmann, entstanden für die Pariser Opéra-Comique, die letzte Chance, all jene eines Besseren zu belehren, die ihn zu einem bloßen Operettenkomponisten abstempelten. In Wirklichkeit hatte er Bühnenwerke in fast jedem Genre geschrieben, und ein Faszinosum seiner finalen „opéra fantastique“, die er bis zu seinem Tod im Oktober 1880 nicht ganz vollenden konnte, ist gerade ihre stilistische Vielfalt, ja Heterogenität: In Salzburg wird Marc Minkowski die Partitur – ihren pointierten Witz und romantischen Überschwang, ihre rührende Empfindsamkeit und tragische Intensität – zu schillerndem Leben erwecken. (Christian Arseni) Musikalische Leitung: Marc Minkowski Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor Wiener Philharmoniker Besetzung Benjamin Bernheim, Kathryn Lewek, Christian van Horn, Kate Lindsey, Marc Mauillon, Géraldine Chauvet, Michael Laurenz, Jérôme Varnier, Philippe-Nicolas Martin, Paco Garcia, und andere Regie: Mariame Clément In französischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Oper

Der Spieler

Salzburger Festspiele

Oper in vier Akten op. 24 (1915—1917 / 1927—28, uraufgeführt 1929) Libretto von Sergej Prokofjew nach dem Roman von Fjodor Dostojewski Mit welcher Wonne würde ich ihm doch all dieses verfluchte Geld ins Gesicht werfen.“ Im Lauf seines Lebens experimentiert Sergej Prokofjew begeistert mit allen nur erdenklichen musikalischen Gattungen. In jeder von ihnen schreibt er Meisterwerke, die ihm eine gewisse Anerkennung einbringen. Im Bereich des Musiktheaters überwiegen hingegen Frust und ein Gefühl des Scheiterns: Seine Opernprojekte werden ständig verkannt, verhindert, verschoben oder abgesagt – sie liegen im Widerstreit mit ihrer Zeit. Der Spieler ist die erste große Oper des Komponisten. Er nimmt sie 1914 in Angriff, indem er einen kurzen Roman von Dostojewski bearbeitet. Darin setzt der Schriftsteller sich mit seiner eigenen Spielsucht auseinander: Er schildert den rasenden Lauf in den Abgrund, die erbarmungslose Selbstzerstörung, und seziert damit unsere Gier nach schnellem Gewinn und raschem Erfolg. Die Handlung spielt im Casino einer fiktiven Stadt, Roulettenburg, wo sich verschiedene Personen begegnen und einander die Stirn bieten – allen voran ein General, der bei einem raffgierigen Marquis hoch verschuldet ist, seine Stieftochter, die gehässige Polina, und der in diese verliebte Alexej. Mit Der Spieler wird zum ersten Mal ein Werk Dostojewskis für die Opernbühne adaptiert. Ohne einen Librettisten hinzuzuziehen, schöpft Prokofjew direkt aus dem Roman. Dieser bietet ihm den Ausgangspunkt für eine entschieden radikale Partitur, befreit von der Unterteilung in musikalische „Nummern“ und von Anfang bis Ende getragen von packender musikalischer Prosa. Im Orchester vermittelt ein unerbittliches Ostinato die fiebrigen Leidenschaften, die das Casino erfüllen. Prokofjew schlägt sein Projekt Sergej Djagilew vor, der jedoch ablehnt. Der Komponist gibt sich nicht geschlagen und bleibt hartnäckig. Die Uraufführung scheint 1917 konkrete Formen anzunehmen, als der Regiepionier Wsewolod Meyerhold plant, das Werk am Mariinski-Theater zu inszenieren. Meyerhold sieht im Spieler die Möglichkeit einer echten Avantgarde-Oper, die imstande ist, der Gattung vollkommen neue Dimensionen zu erschließen. Zwischen Komponist und Regisseur entspinnt sich ein intensiver schöpferischer Wettstreit, der ein außergewöhnliches Resultat verspricht. Doch den Vorbereitungen zur Uraufführung schlägt von verschiedenen Seiten Misstrauen entgegen. Die Sänger·innen lehnen die Partitur ab, die sie für unsingbar erachten. Die bürgerliche Intelligenzija misstraut einem Werk, das als „futuristisch“ eingestuft wird, während die Revolutionäre Dostojewski für dekadent erklären. Die Oktoberrevolution gibt dem Projekt den Gnadenstoß: Es wird aufgegeben. Prokofjew bemüht sich weiter, den Spieler seinen Vorstellungen gemäß zur Uraufführung zu bringen. Zehn Jahre nach der geplatzten Premiere überarbeitet er die Partitur, indem er etwa die Gesangspartien abändert und die Instrumentierung verdichtet. So entstehen Passagen von soghafter Intensität, besonders der Höhepunkt des dritten Aktes, wenn sich die Stimmen aller Spieler mitsamt ihren Sehnsüchten in einem nie dagewesenen Wirbel vereinigen. Im April 1929 erlebt Der Spieler in Brüssel schließlich seine Uraufführung – in französischer Sprache. In Russland stehen die Umstände dem Werk feindlich gegenüber, da es in keiner Weise dem Kanon des Sozialistischen Realismus entspricht. Meyerhold fällt den stalinistischen Säuberungen zum Opfer und wird 1940 hingerichtet. Die Oper der Avantgarde, die zwei visionäre Künstler erträumt haben, wird nicht realisiert. Die erste russische Produktion findet erst 1974 statt, beinahe 20 Jahre nach dem Tod des Komponisten. Prokofjews Oper bietet heute eine verblüffende Relevanz und Aktualität. Unsicherheit und Angst sind in unserer Zeit allgegenwärtig. Mit jedem Morgen setzt man neu. Ganze Vermögen werden im Handumdrehen angehäuft oder verloren. Mehr als je zuvor sind das Casino und die Spannung, die es durchdringt, Metaphern unserer Welt, ihrer Raserei und ihrer Abgründe. Wetten wir, dass der Regisseur Peter Sellars, der für seine eindringlichen Interpretationen verkannter und vergessener Meisterwerke berühmt ist, uns dazu bringt, den gleichen Mut zu zeigen, wie Dostojewski und Prokofjew: den Mut, uns den eigenen Schattenseiten zu stellen; den Mut, unsere moralischen Widersprüchlichkeiten zu ergründen; den Mut, uns selbst ins Gesicht zu sehen. (Antonio Cuenca Ruiz Übersetzung aus dem Französischen: Fedora Wesseler) Musikalische Leitung: Timur Zangiev Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor Wiener Philharmoniker Besetzung: Peixin Chen, Asmik Grigorian, Sean Panikkar, Violeta Urmana, Juan Francisco Gatell, Michael Arivony, Nicole Chirka, Ya-Chung Huang, Ilia Kazakov, und andere Regie: Peter Sellars In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Oper

Der Idiot

Salzburger Festspiele

Oper in vier Akten op. 144 (1986/87, uraufgeführt 2013) Libretto von Alexander Medwedew nach dem Roman von Fjodor Dostojewski „Die Welt wird durch Schönheit gerettet werden.“ Welches Geheimnis trägt dieser Mensch in sich? Welches verborgene Wissen um die Welt gibt ihm Zutritt zur Wahrheit derer, denen er begegnet? Was jeder von uns an Heimlichkeit hütet, was keiner von uns nach außen dringen lassen will – dieser Mensch, dieser Fürst, der „Idiot“, findet es heraus. Seine Aura ist ebenso anziehend wie beängstigend. Man sucht seinen Blick und fürchtet seine Anwesenheit. Man erholt sich nie davon, ihm begegnet zu sein. Der „Idiot“ besitzt eine destabilisierende Kraft, die die Gesellschaft in ihrer Brutalität und Vulgarität, in ihrer Kompromissbereitschaft und mit ihren dunklen Trieben nicht dulden kann. Der „Idiot“ stellt die Umkehrung der allgemeinen Werte dar. Ein Wert hingegen beherrscht ihn vor allen anderen: Mitleid. Und wer uns gegenüber Mitleid zeigt, vor dem schwindet jeder Widerstand. Mitleid bringt die nackte Seele zum Vorschein. Es entwaffnet. Wir leben in einer Welt, in der Wladimir Putin seit dem 24. Februar 2022 versucht, das Volk und die Kultur der Ukraine zu vernichten; in einer Welt, in der seit dem 7. Oktober 2023 die grauenhafte Gewalt der Islamisten und die darauffolgende Vergeltung des Staates Israel Leid verursachen, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr kennen. Hass greift um sich, Menschlichkeit wird mit Füßen getreten. Die Stimme des Mitleids wird vom Kriegslärm erstickt. Wenn nun eine Person (ob real oder, wie hier, fiktiv) angesichts der menschlichen Abgründe durch ihre Worte oder Haltung, durch ihre Wahrhaftigkeit, die jegliche Lüge und Berechnung ausschließt, Herzensgüte und Mitleid gebietet, fürchten wir uns vor der Unerhörtheit einer grenzenlosen Liebe. Fürst Myschkin ist der Name dieser skandalösen lichtdurchfluteten Zärtlichkeit. Einer Zärtlichkeit, die über jedes moralische Urteil erhaben ist. Bedingungslose Liebe gleicht einem Taumel, auf den wir niemals vorbereitet sind. Aus Dostojewskis Roman Der Idiot (1869) hat der polnisch-sowjetische Komponist Mieczysław Weinberg Mitte der 1980er-Jahre seine siebte und letzte Oper geschaffen – neben Die Passagierin sein zweites Hauptwerk für die Bühne. Weinbergs Idiot wurde lange verkannt, doch seine Bedeutung innerhalb der Operngeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist mittlerweile unbestritten. Dem Dirigenten Thomas Sanderling, einem engen Freund des Komponisten, verdanken wir die erste vollständige Aufführung der Oper im Jahr 2013 – 17 Jahre nach Weinbergs Tod – in Mannheim. Wie auch der Geiger Gidon Kremer hat sich Sanderling in den letzten Jahren unablässig bemüht, dem Publikum Werke von Weinberg zu Gehör zu bringen, deren Schönheit man erst heute gänzlich erfasst. Eine beachtliche Rolle in Weinbergs Leben spielte Dmitri Schostakowitsch: Er unterstützte den jungen jüdischen Komponisten aus Polen, der vor der deutschen Armee aus Warschau nach Minsk und danach Taschkent geflüchtet war und 1943 schließlich nach Moskau gelangte. Bis zu seinem Tod setzte er sich gegenüber den sowjetischen Machthabern, die versuchten, die Bedeutung der Musik Weinbergs herunterzuspielen, für dessen Werke ein. Weinberg widmete seine Oper Der Idiot bezeichnenderweise Schostakowitschs Andenken. Die Salzburger Neuproduktion wird von Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert, die sich ebenfalls seit Jahren für diesen außerordentlichen Komponisten begeistert. Nach Henzes The Bassarids, Strauss’ Elektra und Verdis Macbeth präsentiert der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski mit seiner Interpretation von Der Idiot seine vierte Festspielinszenierung. Wie für jeden polnischen Künstler und Intellektuellen ist Dostojewskis Œuvre auch für ihn ambivalent. Warlikowski ermisst dessen außergewöhnliche Tiefe, ohne die Haltung des Schriftstellers in jenen Jahren zu vergessen, als er den Roman schrieb und Polen von den Russen besetzt war: den unbedingten Glauben an die Größe des russischen Volkes und die Gewissheit, dass nur das russische Zarenreich Europa vor dem Verfall bewahren könne. Dostojewskis Vorstellung von Russland findet in unserer Zeit ein befremdliches Echo. Warlikowski wird sich dem Werk jedoch vielmehr über die persönliche Sichtweise Weinbergs annähern und den Reichtum, die Spannung und die Charaktere dieser brillant gebauten Oper ausloten: den dunklen und gewalttätigen Rogoschin, die leidenschaftliche und unglückliche Schönheit Nastassja Filippowna, die geopferte junge Liebende Aglaja und natürlich das unergründliche Geheimnis, das Fürst Myschkin ist. (Christian Longchamp Übersetzung aus dem Französischen: Fedora Wesseler) Musikalische Leitung: Mirga Gražinytė-Tyla Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Jörn Hinnerk Andresen, Wiener Philharmoniker Besetzung: Bogdan Volkov, Ausrine Stundyte, Vladislav Sulimsky, Iurii Samoilov, Clive Bayley, Margarita Nekrasova, Xenia Puskarz Thomas, Jessica Niles, Pavol Breslik, Alexander Kravets, und andere Regie: Krzysztof Warlikowski In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Oper

La clemenza di Tito

Salzburger Festspiele

Opera seria in zwei Akten KV 621 (1791) Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà nach dem Dramma per musica von Pietro Metastasio „Nehmt mir die Herrschaft oder gebt mir ein anderes Herz!“ Vitellia hat sich vergeblich Hoffnungen gemacht, durch eine Vermählung mit Kaiser Tito, dessen Vater einst dem ihren die Herrschaft geraubt hat, auf den römischen Thron zurückzukehren. Nun sinnt sie auf Rache und drängt Sesto, ein Komplott gegen Tito anzuführen. Sesto ist in Vitellia verliebt und hin- und hergerissen zwischen den Gefühlen für sie und der Freundschaft zu Tito. Innerlich aufgewühlt, ist Sesto schließlich bereit, der Liebe den Vorzug zu geben und die Freundschaft zu verraten. Tito überlebt jedoch den Anschlag. Der Senat verhängt über Sesto ein Todesurteil, das noch der Bestätigung durch den Kaiser bedarf. Titos humanitäre Grundsätze werden auf eine harte Probe gestellt: „Alle Mächte haben sich verschworen, mich gegen meinen Willen zur Grausamkeit zu zwingen.“ Obwohl ihm die Schwere der von Sesto begangenen Verbrechen bewusst ist sieht sich Tito vor die Wahl gestellt, Gerechtigkeit oder Milde — „clemenza“ — walten zu lassen … Im Juli 1791 wurde Domenico Guardasoni, der Impresario des Prager Ständetheaters, mit der Aufgabe betraut, eine Festoper anlässlich der Krönung Leopolds II. zum König von Böhmen zu organisieren. Ein „berühmter Komponist“ sollte dafür verpflichtet werden, und so fiel Guardasonis erste Wahl auf den Wiener Hofkapellmeister Antonio Salieri. Erst nachdem Salieri das Angebot ausgeschlagen hatte, ging der Auftrag an Wolfgang Amadeus Mozart. Da die Zeit bis zum Krönungstag Anfang September knapp bemessen war, griff man auf ein bereits bestehendes Libretto zurück: Pietro Metastasios La clemenza di Tito zählte zu den populärsten Operntexten des 18. Jahrhunderts und war seit 1734 bereits über 50 Mal als Opera seria vertont worden. Für die Krönungsfeierlichkeiten bot sich das Werk umso mehr an, als es als höfische Fest- und Huldigungsoper par excellence galt. Auf Grundlage der anekdotenhaften Darstellungen der römischen Geschichtsschreiber Sueton und Aurelius Victor hatte Metastasio mit seinem Tito eine tugendhaft-wohltätige Figur geschaffen, die das Ideal einer aufgeklärten Herrscherpersönlichkeit verkörperte. Die Tugenden der antiken „clementia romana“ ließen sich unmittelbar auf die von den Habsburgern propagierte „clementia austriaca“ übertragen, und gleichzeitig konnten Fürsten wie Leopold II. — der Folter und Todesstrafe abgeschafft hatte — mit dem pseudohistorischen Vorbild assoziiert werden. Die strenge Dramaturgie der von Metastasio geprägten Opera seria, die eine schematische Abfolge von Rezitativen und Arien vorsah, war 1791, Mozarts letztem Lebensjahr, schon längst überholt. Der Librettist Caterino Mazzolà, der eigentlich auf komische Opern spezialisiert war, reduzierte Metastasios Vorlage von drei auf zwei Akte, formte aus einzelnen Dialogen Ensembleszenen und erweiterte die Rolle des Chores, was vor allem dem Finale des ersten Akts, in dem der Anschlag verübt und das Kapitol in Brand gesetzt wird, zu großer dramatischer Wirkung verhalf. In seinem Werkverzeichnis vermerkte Mozart, Mazzolà habe aus der Vorlage eine „vera opera“, eine wahre — gar wahrhaftige? — Oper gemacht. Und tatsächlich verleihen die Dynamisierung der Handlung und Mozarts musikalische Charakterzeichnung den einzelnen Figuren, ihren Motiven und Intentionen enorme Plastizität und Glaubwürdigkeit. Im Zentrum der Oper — es war Mozarts letzte — stehen zeitlose Fragen, die um den richtigen Umgang mit Macht vor dem Hintergrund von Intrige, Gewalt und Terror kreisen: Kann Menschlichkeit über Unmenschlichkeit regieren? Lässt sich jede Schuld verzeihen? Lassen sich Staatsräson und Humanität vereinbaren? Kann es eine Gerechtigkeit geben, wenn private und politische Interessen miteinander in Konflikt geraten? Das Ethos von Mozarts Tito verdichtet sich in der Erkenntnis, dass die „Treue der Untertanen“ gegenüber ihren politischen Führern nicht „Frucht der Angst“ sein dürfe, sondern auf Liebe gründen müsse. (David Treffinger) Musikalische Leitung: Gianluca Capuano Il Canto di Orfeo, Les Musiciens du Prince — Monaco Besetzung: Daniel Behle, Alexandra Marcellier, Mélissa Petit, Cecilia Bartoli, Ildebrando D'Arcangelo Regie und Licht: Robert Carsen In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Oper

Don Giovanni

Salzburger Festspiele

Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni Dramma giocoso in zwei Akten KV 527 (1787) Libretto von Lorenzo Da Ponte Neueinstudierung „Wer ich bin, wirst du nie erfahren.“ Sich Don Giovanni anzunähern, bedeutet für Romeo Castellucci, sich der Mehrdeutigkeit und Komplexität sowie dem inneren Ungleichgewicht zu stellen, die Mozart dem Protagonisten seiner Oper verleiht. Vitalität und Zerstörung: In dieser Ambivalenz sieht Castellucci eine Faszination der Figur. Don Giovanni denkt nicht, sondern handelt in großer Eile, ohne Atem zu holen. Er stürmt dahin und bringt Zerstörung, während er den Menschen, die auf ihn Jagd machen, beständig entgeht. In seinem pausenlosen Lauf schafft er jedoch gleichzeitig auch Raum, bringt Zeit hervor und erzeugt Leben. Man könnte sagen, dass sein Todesschicksal das Ergebnis eines Übermaßes an Leben ist. Der alte Mythos von Don Juan, in den Legenden ebenso eingingen wie fromme Lehrfabeln, erfuhr seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine Unzahl von Neuinterpretationen. Da Ponte und Mozart entwickelten ihn differenziert weiter und schufen ein Werk, in dem Tragödie und Komödie Seite an Seite existieren. Im Gewebe der Musik ist vom ersten Takt an ein Todestrieb spürbar, der auf die finale Katastrophe hindeutet. Und wenn das Stück spielerisch – „giocoso“ – wird, haben wir es mit einem sehr ernsten Spiel zu tun. Mozarts Musik birgt auch dort, wo ihr Atem leicht ist, Kavernen, die sich auftun, um die tiefsten Sehnsüchte des Menschen zu enthüllen. Don Giovanni kennt weder Reue noch Schuldgefühle: Um seine Wünsche zu befriedigen, greift er das Gesetz an, diskreditiert es und hebt es auf. Es ist kein Zufall, dass seine erste Tat in der Oper die Tötung eines Vaters – des Vaters – ist. Der Komtur verkörpert das Gesetz des Vaters, und wie alle ermordeten Väter in den Dramen der westlichen Literatur kehrt er als Geist zurück – er ist überall spürbar. In Castelluccis Inszenierung wird ein demontierter und entleerter – ein entweihter – Kirchenraum zum Hauptquartier Don Giovannis. Eine neutrale Architektur wird von Mal zu Mal mit Bedeutung aufgeladen, durch eine präzise Dramaturgie aus angemessenen und unangemessenen Objekten, die herabfallen, die auftauchen und sich auflösen, die einen Gleichgewichtspunkt suchen. Es ist, als würden wir dem Spiel eines Kindes beiwohnen, das bestrebt ist, sein Spielzeug zu zerstören. In diesem Sinn ist Don Giovanni eine pantoklastische – „allzerstörerische“ – Figur, eben ein Kind, das seiner Frustration darüber Luft macht, dass es das begehrte Objekt nicht erlangen kann. Die drei Frauen der Oper stehen für drei verschiedene Gefühlsuniversen. Donna Anna ist von edler Herkunft und verkörpert das schwer zu erreichende höchste Objekt des Begehrens. Ihre Sprache und ihr Schmerz werden in ihrer Gestik greifbar – der Gestik einer tragischen Heldin. Donna Elvira ist eine Figur, deren Stimme Verwirrung und Aufgewühltheit verrät. Sie repräsentiert die Familie, das Gefüge der Gesellschaft. Don Giovanni empfindet Schauder, als er ihr zum zweiten Mal begegnet. Der Gedanke, er könnte herausfinden, dass er Vater ist, jagt ihm Schrecken ein. Die Liebe ist in seinem Fall etwas, das zerteilt, spaltet, abschneidet, tötet – nicht hervorbringt. Und dann haben wir die Bäuerin Zerlina, den Körper als Objekt des Begehrens par excellence, ein Gegenstand, der für Don Giovanni nur da ist, um besessen zu werden. Er geht davon aus, dass sie ihm mit Fug und Recht zusteht, sogar an ihrem Hochzeitstag. Don Giovanni ist unfähig, die Frauen in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit wahrzunehmen, weil ihn sein Narzissmus blind macht. Für den zweiten Akt hat Castellucci eine große Anzahl von Frauen, die in Salzburg leben, eingeladen, die Bühne des Großen Festspielhauses zu besetzen. Die Frauen kommen, um sich den eigenen Körper, eine Präsenz, eine Biografie zurückzuholen. Die entsetzliche Liste von Leporellos Register verwandelt sich in ein Element aus Fleisch und Blut, das berührt und bewegt. Die Choreografin Cindy Van Acker hat mit den Frauen Bewegungsbahnen durch den Raum, Dynamiken der Interaktion, Formen von Gegenseitigkeit und Verbundenheit konzipiert. Die Anwesenheit der Frauen macht sichtbar, wie das Feld des Begehrens allmählich eine absorbierende, einverleibende Kraft entwickelt. Das polare Schema von Don Giovanni als Jäger und den Frauen als Gejagten wird umgekehrt. (Nach einem Gespräch zwischen Romeo Castellucci und Piersandra Di Matteo Übersetzung aus dem Italienischen: Christian Arseni) Musikalische Leitung: Teodor Currentzis Utopia Choir, Vitaly Polonsky, Utopia Orchestra Besetzung: Davide Luciano, Dmitry Ulyanov, Nadezhda Pavlova, Julian Prégardien, Federica Lombardi, Kyle Ketelsen, Ruben Drole, Anna El-Khashem Regie, Bühne, Kostüme und Licht: Romeo Castellucci In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Gala

50 Jahre Domingo in Salzburg

Salzburger Pfingstfestspiele

Münchner Rundfunkorchester Marco Armiliato, Musikalische Leitung Aida Garifullina, Sopran Elena Stikhina, Sopran Sonya Yoncheva, Sopran René Barbera, Tenor Bekhzod Davronov, Tenor Dmitry Korchak, Tenor Rolando Villazón, Tenor / Moderator Plácido Domingo, Bariton Erwin Schrott, Bassbariton und andere In Plácido Domingos Repertoire nahm Mozart zwar keine zentrale Stellung ein; eine unermüdliche Schaffenskraft und die unbändige Lebensenergie hingegen mag die beiden trotz aller Unterschiedlichkeit miteinander verbinden. — Und natürlich Salzburg als wichtiges Zentrum einer vielseitigen künstlerischen Tätigkeit! Seit 50 Jahren tritt Plácido Domingo in Salzburg auf, diesmal im Rahmen einer Gala mit zahlreichen Preisträger·innen von Operalia. Vor rund 30 Jahren zur Förderung des Nachwuchses von Domingo ins Leben gerufen, gehören die meisten Gewinnerinnen und Gewinner dieses weltweit durchgeführten Gesangswettbewerbs mittlerweile zur Crème de la Crème der internationalen Opernszene.
Aufführungen | Oper

La clemenza di Tito

Salzburger Pfingstfestspiele

Il Canto di Orfeo Les Musiciens du Prince - Monaco Gianluca Capuano, Musikalische Leitung Opera seria in zwei Akten KV 621 (1791) Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà nach dem Dramma per musica von Pietro Metastasio Neuinszenierung 1791 kurz nach der Zauberflöte komponiert, aber wenige Wochen früher uraufgeführt als jene, haftet La clemenza di Tito seit den 1820er-Jahren der Ruf des Altertümlichen, Rückständigen an. Schuld daran ist sicher das Vorurteil gegenüber einem aus der Mode geratenen, dem Absolutismus huldigenden Libretto von 1734. Dabei fasziniert doch gerade Mozarts Vermögen, das Korsett der Opera seria aufzubrechen und eine ergreifende, ganz eigene Musik zu erschaffen, die sich beim unvoreingenommenen Hinhören nicht vom übrigen wunderbaren Spätwerk unterscheidet. Ein kluger Opernregisseur wie Robert Carsen wird für uns das Zeitgemäße am Stoff herausarbeiten. Robert Carsen, Regie und Licht Gideon Davey, Bühne und Kostüme Peter Van Praet, Licht Jacopo Facchini Choreinstudierung In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Aufführungen | Gala

Une folle journée

Salzburger Pfingstfestspiele

Les Musiciens du Prince - Monaco Gianluca Capuano, Musikalische Leitung Mélissa Petit, Sopran Cecilia Bartoli, Mezzosopran Lea Desandre, Mezzosopran Daniel Behle, Tenor Rolando Villazón, Tenor Ildebrando D'Arcangelo, Bassbariton und andere Davide Livermore, Regie und Licht Giò Forma, Bühne D-WOK, Video Ensembles und Arien aus Le nozze di Figaro, Così fan tutte und Don Giovanni Mozarts legendärer Humor ist meist mit einer Portion Philosophie und einer Prise Melancholie angereichert. Dem Mozart’schen Esprit spürt dieser „tolle“, eigens für Salzburg kreierte Abend nach, an dem die kongeniale Zusammenarbeit des Salzburger Komponisten mit Lorenzo Da Ponte im Zentrum steht. Die Tatsache, dass Stimmfächer im heutigen Sinn damals unbekannt waren und zum Beispiel Contessa, Susanna, Cherubino, Marcellina und Barbarina in Le nozze di Figaro allesamt von Sopranistinnen gesungen wurden, wird hier spielerisch ausgelotet: Unbekümmert überwindet unser hochkarätiges Mozart-Ensemble Fachgrenzen, indem es lustvoll von einer Rolle in die andere schlüpft, bisweilen sogar innerhalb einer einzigen Szene …
Aufführungen | Film

Der Golem, wie er in die Welt kam

Literaturhaus Salzburg

Filmclub | Kafkas Welten Beteiligte: Carl Boese, Paul Wegener Franz Kafka war ein enthusiastischer Kinobesucher. Seine Begeisterung zeigt sich besonders in den Tagebüchern: „Im Kino gewesen. Geweint“ gehört zu den bekanntesten Notaten des Autors. Die Flüchtigkeit der Bilder im Kino faszinierte ihn, das Gefühl der Fragmentierung und die Technologisierung der Alltagswelt waren eine wichtige Grundlage für sein Schreiben. Als Beispiel für das zeitgenössische Filmschaffen – mit Bezug auf das kulturgeschichtliche Umfeld Kafkas – zeigen wir die Adaption des Golem-Motivs durch Paul Wegener und Carl Boese. Als bekannteste literarische Fassung des Stoffes, der seine Ursprünge im 16. Jahrhundert hat, gilt der 1914 entstandene Roman „Der Golem“ von Gustav Meyrink. Der Stummfilm entstand allerdings unabhängig davon. DE 1920; Regie: Paul Wegener, Carl Boese; Drehbuch: Paul Wegener, Henrik Galeen; Kamera: Karl Freund; mit: Paul Wegener, Albert Steinrück, Lyda Salmonova, Ernst Deutsch u.a.; 87 Min.; Stummfilm Veranstalter: Das Kino, Literaturforum Leselampe Eintritt Kartenpreise DAS KINO, Mitglieder DAS KINO und Leselampe frei
Aufführungen | Schauspiel

Sternstunden der Menschheit

Salzburger Festspiele

Neuinszenierung „Aber kein Atem war zu hören, als die Musik begann, und immer lautloser wurde das Lauschen.“ Die Sternstunden der Menschheit waren ein Lebensprojekt von Stefan Zweig: 1927 als Sammelband bereits veröffentlichter Texte mit fünf historischen Miniaturen erstmals erschienen und prompt ein Bestseller, fügte er im Laufe der folgenden Jahrzehnte in Neuauflagen und Übersetzungen weitere neun hinzu. Die „Sternstunde“, in der in einem einzigen kurzen Augenblick der Lauf der Welt entscheidend verändert wird, scheint für Zweig ein eigenes Textgenre geworden zu sein, für das er gezielt schrieb, auch wenn sich manche – wie die über Magellan – dann doch zu einem ganzen Roman auswuchs. Begonnen in den Goldenen Zwanzigern, die Zweig am Salzburger Kapuzinerberg verlebte, geht das Buch mit ihm auf Weltreise. Die englische Ausgabe The Tide of Fortune landet 1940 nicht in den Regalen, die druckfrischen Exemplare laufen mit dem bombardierten Schiff, das sie transportiert, auf Grund. „Nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet“, schreibt Zweig 1942 in seinem Abschiedsbrief am anderen Ende des Planeten, hat er keine Kraft mehr für einen Neuanfang im brasilianischen Exil und sagt der Welt der Lebenden Adieu. Ob Napoleons Untergang bei Waterloo, Lenins heimliche Rückkehr nach Russland, Scotts knapp verpasste Entdeckung des Südpols oder die schwierige Verlegung eines Telegrafenkabels durch den Atlantik – die Helden der Sternstunden sind stets im richtigen Moment am falschen Ort – oder umgekehrt. Und sie stammen alle aus der westlichen Hemisphäre. Andere Gebiete tauchen – übrigens ebenso wie Frauen – nur als Objekt der Eroberung auf. Aber was Zweig beschreibt, sind auch keineswegs Glanzleistungen – von Händels Messiah und Goethes Marienbader Elegie einmal abgesehen –, sondern meist aus Irrtümern, Starrsinn, Eitelkeit geboren oder weil Zufall und Chaos ihr Übriges getan haben. Dem Wirken der porträtierten Männer steht neben Zweigs durchaus kritischer Stimme stets „die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten“ gegenüber, die Geschichte selbst, und den entscheidenden Sekunden „Millionen müßige Weltstunden“, wie er im Vorwort schreibt. In der musiktheatralen Bearbeitung treffen Zweigs Beschwörungen eines verschwundenen Europas auf südamerikanische Volksmusik. Das könnte so gehen: Stefan Zweig in seinem Sterbezimmer. Umsorgt von einer Schar hilfreicher Gespenster – sind es Pfleger·innen oder Erinnerungen aus der Vergangenheit? – liegt er im Bett und wartet, bis das Gift wirkt. In seinem Kopf – und im Gehörgang des Publikums – schwirren noch einmal die Mythen der „Welt von Gestern“, geflüstert von diversen halbrealen Gestalten, Besucher·innen, echt und eingebildet. Vor dem Fenster geht ein kleines Blasmusikensemble musizierend im Kreis, ums Bühnenbild, ums Theater, und erzeugt so ein vielschichtiges Hör-Bild. Als hätte jemand das Fenster offen gelassen, mischen sich seine letzten Gedanken mit der brasilianischen Straßenatmosphäre, hergestellt vom bayerisch-portugiesischen Heimatlosenorchester München–Rio–Addio. Zweigs wortreiche Beschwörungen von Pioniergeist und Heldenhaftigkeit seiner Entdecker, Dichter, Denker und Generäle werden von der Saudade umweht – einer spezifisch portugiesischen Form des Weltschmerzes, der sich mit „Traurigkeit“, „Wehmut“, „Sehnsucht“, „Heim- oder Fernweh“ oder „sanfte Melancholie“ nur annähernd übersetzen lässt. Nach dem Vorbild von Charles Ives’ vertikaler Komposition werden die Klänge und Sprachfragmente wie letzte Hemden im Überseekoffer übereinandergelegt. Für jeden Sitzplatz im Theater entsteht so ein individuelles Hörerlebnis, in dem das Kleine mit dem Großen verbunden ist und jedes horchende Subjekt mit dem größeren Ganzen – so wie in Zweigs Erzählungen die kleinen Einzelschicksale mit dem großen Weltgetriebe. (Thom Luz & Katrin Michaels) Regie und Sound-Design: Thom Luz Mit Vincent Glander, Evelyne Gugolz, Isabell Antonia Höckel, Steffen Höld, Nicola Mastroberardino, Barbara Melzl, Johannes Nussbaum Heimatlosenorchester München–Rio–Addio In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln Eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Residenztheater München
Aufführungen | Schauspiel

Die Orestie

Salzburger Festspiele

„Fortan siege stets unser Bemühen für das Gute.“ Menschen verletzen Menschen, Völker Völker. Gewalt erzeugt Gewalt. Bomben Bomben. Der natürliche Reflex scheint zu sein: Vergeltung, Strafe, Rache, sogar Vernichtung, bis an die Grenze zur Selbstauslöschung der Art. Da, wo die klassische Orestie beginnt, liegt schon über Generationen ein Schlachtfeld des Grauens hinter den Protagonisten. Mit der dreiteiligen Orestie des Aischylos beginnt die europäische Theatergeschichte. Sie erzählt in einer Zeit, wo die attische Demokratie stabil wirkt, deren Vorgeschichte, den Gründungsmythos („was bisher geschah“). Das Theater erinnert daran, wie in mythischer Vorzeit heillos sich gegenseitig mordende Clans von Göttern und Menschen wüten, wie Gewalt nicht eindämmbar ist – weder nach innen noch nach außen. Die Welt ist ein Schlachtfeld des Grauens, lokale Nachbarn werden in zehnjährigen Kriegen vernichtet. Töchter werden geopfert, um die eigene Karriere in Staat und Militär zu befördern, eine Mutter rächt sich und tötet den Kindsmörder und Ehegatten, ein vaterloser Sohn und Bruder der Tochter begeht Muttermord. Und natürlich soll auch dieser Sohn sterben. – Aischylos erinnert an diese Vorgeschichte, um am Schluss umso wirkungsvoller von ihrer Auflösung in einem „Happy End“ zu erzählen. Seine Konstruktion: Ausgerechnet der Muttermörder Orest darf weiterleben! Möglich wird dies bei Aischylos dank eines demokratischen Prozesses mit verbindlichen Abstimmungen und einem daraus folgenden göttlich begleiteten Urteil, das klugerweise auch die Verlierer versöhnend in die neue Harmonie einbindet. In Blut gebadet will man tatsächlich Frieden. Fortan sind andere Mechanismen der Konfliktlösung möglich; Gewalt ist tabuisiert. Aischylos erzählt, dass die friedensstiftende Sprache der Vernunft gegen die des Blutes siegt, Politik gegen Rache, die soziale Kraft des Chors gegen archaische Gesetze. Das ist eine Geschichte, die uns gefällt. Die wir gern hören. Aber die Harmonie hat nicht lange Bestand. Schon bei Sophokles sind die Regeln und Gesetze, die die Welt beherrschen, undurchschaubar, es gibt in ihr keinen Konsens mehr, das Individuum ist auf sich selbst zurückgeworfen. Mit Euripides verschafft sich eine weitere Generation Gehör, eine Generation moderner Skeptiker und Zweifler. Ihr ist der Optimismus von Aischylos ebenso fremd wie der Stoizismus von Sophokles. 50 Jahre liegen zwischen Aischylos und Euripides – 50 Jahre geschichtliche Erfahrung, mit Kriegen, Seuchen, Plünderungen und Hungersnöten: Die Kraft zur Wahrung der Demokratie nimmt rapide ab. Euripides schreibt die Orestie, und insbesondere deren Schluss, um. Sein Orest ist ein Tabubruch, ja ein Skandal: Der Prozess gegen Orest, wie ihn der jüngere Euripides aufschreibt, ist voller Demagogie, Lüge, Tricks, Egomanie, Manipulation. Demokratie, Läuterung oder gar göttliche Weisheit gibt es hier nur noch als grelle Parodie. Der Himmel ist leer, übrig bleibt die Bestie Mensch. Ein Akt der Überschreibung, ein re-writing aus Zweifel, aus Kontingenz vielleicht, jedenfalls ohne erbauliche Alternative. Aischylos, Sophokles und Euripides erzählen in je unterschiedlicher Tonalität von Menschsein, Gewalt und Politik. An einer Stelle sagt Menelaos: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Was meint er damit? Die Einsicht, dass Gewalt unvermeidbar ist, weil sie zum Menschen dazugehört? Oder die Einsicht in die Notwendigkeit, Gewalt zu vermeiden? Und: wie? Nicolas Stemanns Neufassung dieser antiken Stücke entsteht vor dem Hintergrund einer Gegenwart, in der Demokratie immer mehr infrage gestellt und – ähnlich wie Pazifismus – wie ein Auslaufmodell gehandelt wird. Es ist seine dritte Arbeit bei den Salzburger Festspielen nach dem viel beachteten Faust-Marathon (2011) und der Inszenierung von Schillers Die Räuber (2009). (Joachim Lux) Regie: Nicolas Stemann Mit Patrycia Ziółkowska, Sebastian Rudolph, Barbara Nüsse, und anderen In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln
Aufführungen | Schauspiel

Spiegelneuronen

Salzburger Festspiele

Ein dokumentarischer Tanzabend mit Publikum Uraufführung „Wenn Sie das Gefühl haben, eine Entscheidung zu treffen, bilden Sie sich das vielleicht nur ein.“ Dieses Stück ist ein Experiment. In jeder Aufführung von neuem. Es geht um das menschliche Gehirn und sein Verhältnis zum Körper. Das Publikum ist ein wesentlicher Teil des Experiments, denn es ist eingeladen, nicht nur Tanz zu beobachten, sondern sich auch selbst zu bewegen, von seinem Sitzplatz aus als aktiver Teil eines gemeinsamen Systems zu agieren, sich selbst als Teil einer Art großen Gehirns zu erleben. Spiegelneuronen ist die erste Zusammenarbeit von Sasha Waltz & Guests und dem Dokumentartheaterlabel Rimini Protokoll. Damit setzt die Tanzcompagnie die Öffnung für neue Handschriften sowie ihr Interesse an künstlerischer Recherche und genreübergreifender Zusammenarbeit mit internationalen Künstler·innen zur Erweiterung ihres Repertoires fort. Aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommend, interessieren sich beide Compagnien für die ungewöhnliche Bespielung von Räumen sowie die interdisziplinäre Arbeit. Nun untersucht Stefan Kaegi gemeinsam mit Tänzer·innen von Sasha Waltz & Guests sowie dem Publikum das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit den Mitteln des Tanzes vor einem großen Spiegel. Spiegel haben in Ballettproberäumen eine lange Tradition. Historisch hatten sie dort vor allem eine normative Funktion, dienten sie doch der Perfektionierung des Corps de Ballet, einem durch Disziplin und Drill synchronisierten Gesamtkörper aus einem ganzen Chor von Tänzer·innen. Kein Wunder, dass dieser Spiegel parallel zum Aufstieg des Individuums und der subjektiven Freiheit im modernen und zeitgenössischen Tanz an Bedeutung verlor. Dieser dokumentarische Tanzabend richtet den Spiegel nun auf das Publikum zurück und bezieht es als Subjekt der Betrachtung ins Experiment mit ein. Ein Spiegel wird in diesem Abend da installiert, wo normalerweise die Bühne ist. Er reflektiert nicht nur die Tänzer·innen, sondern wie ein gigantisches Selfie die ganze Tribüne mitsamt dem Publikum. So wird, ähnlich wie bei Aktionen des Performancekünstlers Dan Graham in den 1970er-Jahren, der Zuschauerraum zum Hauptaktionsort. Das Publikum rückt im Austausch mit den Tänzer·innen selbst ins Zentrum der choreografischen Bewegungen und erlebt sich beim „Verkörpern“ von komplexen Bildern. Neurowissenschaftler·innen gehen davon aus, dass unser Nervensystem nicht zentral gesteuert ist, sondern dass die verschiedenen Bereiche des Gehirns intensiv miteinander kommunizieren: vergleichbar einem Computernetzwerk mit Algorithmen, die nicht linear, sondern dezentral agieren und auf ihren Kontext reagieren, während sie Informationen sammeln und prozessieren. Wie genau das geschieht, darüber kann auch die Wissenschaft bisher nur spekulieren. Immer wieder werden neue Mechanismen entdeckt. Anfang der 1990er-Jahre zum Beispiel die Spiegelneuronen: Diese führen dazu, dass das Gehirn in ähnlicher Weise angeregt wird, egal ob wir selbst etwas tun oder dieselbe Handlung bei einer anderen Person beobachten. Obwohl beim Menschen schwer nachzuweisen, könnten Spiegelneuronen einen Schlüssel zur Erklärung von Empathie und gegenseitigem Verstehen darstellen. Die dokumentarische Recherche zu diesem Tanzabend bezieht Konzepte aus Hirnforschung, Biologie, Soziologie und künstlicher Intelligenz ein, die das Publikum einerseits hört und reflektiert und andererseits erlebt, nachvollzieht – vielleicht sogar antizipiert oder versucht, sich ihnen zu entziehen. Und zwar ganz konkret am eigenen Körper und als große Gemeinschaft im Publikum. Über den Spiegel betrachten die Zuschauer·innen sich und die anderen beim Beobachten des Versuchs, in dessen Zentrum sie sitzen. Modellhaft lässt sich mittels Bewegungsimpulsen eine Gruppe von Menschen auf einer Tribüne ähnlich vernetzen wie ein Gehirn. Vertont wird dieses bewegte Bild durch ein Musikarrangement mit O-Ton-Einspielungen von Wahrnehmungsforscher· innen. In der Wahrnehmung des Publikums verwebt sich die Szenerie mit deren Gedanken, illustriert oder konterkariert sie, vervollständigt oder widerlegt sie. Jeden Abend anders. Konzept und Regie: Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) Mit Melissa Kieffer, Dominique McDougal, Orlando Rodriguez, László Sandig, Claudia de Serpa Soares, Wibke Storkan u. a. Eine Produktion von Sasha Waltz & Guests in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen und Tanz Köln In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln
Aufführungen | Performance

KI & Kunst

Salzburger Festspiele

Das weitreichende Potenzial künstlicher Intelligenz weckt Interesse und zugleich berechtigte Bedenken hinsichtlich ihrer unvorhersehbaren Auswirkungen auf die Welt der Kunst und unser Leben im Allgemeinen. Während zunächst IT-Experten die Möglichkeiten von KI demonstrieren, diskutieren anschließend Vertreter· innen aus der Kunstwelt darüber, ob KI künstlerisch Gültiges schaffen kann? Schließlich schaltet sich ein besonderer Diskussionsteilnehmer ein: Morpheus, ein KI-Modell mit einer emotionalen Komponente. Es wird seine eigene Meinung zu diesem Thema erläutern und Fragen aus dem Publikum beantworten. Mit Stefan Kaegi, Asmik Grigorian, Miller Puckette, David Yang, und Morpheus In Zusammenarbeit mit CultTech Association und Ars Electronica

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